Veröffentlichung in der SZ Nr. 225 (Wissen) vom 29.09.2022

 

"Singen hilft in jedem Lebensalter"

Die Stimme verändert sich ein Leben lang. Der Mediziner und Sänger Bernhard Richter erklärt, warum auch Mädchen in den Stimmbruch kommen, wie er seine eigene Stimme fit hält - und weshalb man immer mal wieder summen sollte.

Gut gelaunt geht Bernhard Richter ans Telefon und redet direkt drauf­los. Früh zeigt sich eine Eigenheit: Er demonstriert immer wieder stimmlich, was er erklärt, vom Stimmbruch bis zum sogenannten Greisendiskant, das plötzli­che Umschlagen in die Fistellage. Richter sang als Kind bei den Stuttgarter Hymnus -Chorknaben, studierte später Gesang, par­allel Medizin. Heute ist er Stimmarzt und Sänger. Er leitet am Universitätsklinikum Freiburg das Institut für Musikermedizin. Über die Physiologie der Stimme hat er Bü­cher und Filme veröffentlicht.

SSZ: Herr Richter, macht sich das Altern der Stimme bei Ihnen persönlich schon bemerkbar?

Bernhard Richter: Ich werde demnächst 60, und meine Sprechstimme ist altersge­mäß. Was ich aber an meiner Singstimme ganz stark merke: Ich brauche wesentlich länger, um mich einzusingen, und benöti­ge mehrere Tage Aufbautraining, bevor ich öffentlich auftreten kann. Und wenn nach einem Konzert meine Stimme eigentlich gut trainiert ist, fällt dieser Trainingszu­stand innerhalb weniger Tage wieder ab.

Zum Beispiel habe ich letztes Jahr die „Winterreise" gesungen, das ist mehr als ei­ne Stunde Gesangsvortrag. Das klappte gut. Als ich dann nach einer Woche Pause wieder begonnen habe zu singen, merkte ich jedoch: Ich bin wieder untrainiert, das kannte ich in jüngeren Jahren so nicht. Au­ßerdem fällt mir die Kontrolle des Vibratos schwerer. In Chören mit älteren Menschen hört man das manchmal, wenn die Grund­tonhöhe „wackelt". Aber ich kann das bis­her durch regelmäßiges Training in Gren­zen halten.

 

Können Sie erklären, wie wir Töne erzeu­gen, wenn wir singen oder sprechen?

Das Instrument Stimme besteht aus drei übergeordneten Bauteilen. Erstens: die At­mung als Grundlage für die Tonprodukti­on. Die Atmung ist wie ein Blasebalg, der den Anblasdruck, den sogenannten sub-glottischen Druck, zur Verfügung stellt.

Das Zwerchfell entspannt sich, die Luft strömt aus der Lunge in den Kehlkopf.

Genau. Zweitens haben wir den Kehlkopf, sozusagen als Tongenerator. In ihm befin­den sich die Stimm-lippen, deren Länge, Di­cke und Spannung eine wichtige Rolle für die Tonhöhenkontrolle spielen. Die Luft aus der Lunge regt die Stimmlippen zur Schwingung an: Es entsteht der primäre Kehlkopfklang. Dieser bildet das Rohmate­rial und klingt noch nicht besonders an­sprechend. Erst wenn er durch das dritte Bauteil, den Vokaltrakt, geschickt wird, kommt es durch dessen Filterwirkung zu einer Klangformung, sodass wir Vokale und Konsonanten erkennen oder auch die Schönheit der Stimme genießen können. Die Klangformung im Vokaltrakt trägt auch dazu bei, wie laut eine Stimme wahr­genommen wird.

 

Klingt nach einem komplexen Apparat. Was passiert damit, wenn wir altern?

In allen drei Bauelementen sieht man Ver­änderungen in der Lebenszeitperspektive. Die Länge der Lippen wächst sehr stark vom Kindes- zum Erwachsenenalter, auch der Blasebalg der Atmung wird größer, und der Vokaltrakt dehnt sich aus. Diese biologischen Veränderungen werden durch Hormone verursacht, vor allem die Sexualhormone. Das Ohrenfälligste ge­schieht in der Jugendzeit

 

Der Stimmbruch.

So heißt es im Volksmund, wir Stimmärzte sprechen eher von Mutation oder Stimm­wechsel. Dabei ist besonders bei männli­chen Individuen deutlich ein Übergang von der kindlichen zur erwachsenen Stim­me zu hören, gekennzeichnet durch einen Abfall der mittleren Sprechtonlage von et­wa einer Oktave. Die Grundfrequenz hal­biert sich dabei, etwa von 240 auf 120 Hertz. Der Kehlkopf bleibt aber natürlich trotzdem in der Lage, zwischen hohen und tiefen Stimmlagen zu wechseln.

Was weniger bekannt ist: Weibliche Indi­viduen haben einen ähnlichen Wechsel, hier fällt die Tonlage jedoch nur um etwa ei­ne Terz. Das heißt, die mittlere Stimmlage wird ebenfalls tiefer, man hört es nur nicht so deutlich. Doch die jungen Frauen mer­ken das, etwa im Gesangskontext: In die­ser Zeit können sie nicht so gut singen, und es differenziert sich aus, ob sie in Chören ei­ne Sopran- oder Alt-Stimme besetzen kön­nen. Die Stimmlippen bei Frauen sind in der Regel kürzer als bei Männern, weshalb sie häufig höher singen können. Ihre Sprechstimmen allerdings liegen eher in ei­nem tieferen Bereich, der umgangssprach­lich Bruststimme genannt wird.

 

Aus der Sprechstimme können wir interessanterweise gut aufs Alter schließen. Ältere Frauen etwa klingen tiefer als junge. Woran liegt das?

Wenn Frauen in die sogenannten Wechseljähre kommen, tritt eine ähnlich abrupte Stimmveränderung ein wie beim Stimm­wechsel der Jungs in der Pubertät. Die Stimme wird zumeist tiefer und klingt nicht selten brüchiger und rauer. Bei biolo­gischen Männern findet eine Änderung der Sprechstimmlage ebenfalls statt, je­doch nicht so schnell. Wenn ich Ihnen jetzt im Theater die Aufgabe geben würde, ei­nen Greis darzustellen, würden Sie wahr­scheinlich einen Stock zu Hilfe nehmen, ei­nen Buckel machen, aber auch höher und zittriger sprechen. Sie imitieren dann den sogenannten Greisendiskant: Die Sprech­stimme verlagert sich eher in den höheren Frequenzbereich. Wir sind also alle mit der Alterung unserer Stimme konfrontiert. Ne­ben dem Biologischen treibt mich aber auch die künstlerische und soziale Funkti­on der Stimme um.

 

Das müssen Sie erläutern.

Die Stimme kann sehr variabel eingesetzt werden Männer etwa können sehr hoch sprechen und singen - denken Sie nur an die Tradition im Sprechtheater und auf der Opernbühne. Hier wurden und werden weibliche Rollen häufig mit facettieren­den Männern besetzt. Auch Frauen kön­nen stimmlich tief gelagerte Rollen über­nehmen, das kann künstlerisch durchaus Sinn machen. Die Konnotation, dass eine jugendliche Stimme per se das Ideal dar­stellt, halte ich im Alltag jedoch für überdenkenswert. Die Stimme spielt ja als Emotions- und Erfahrungsträgerin eine wichti­ge Rolle. Früher, als Lebenserfahrung vor allem mündlich tradiert wurde, waren älte­re Stimmen für Jüngere besonders wert­voll, weit man ihnen die Lebenserfahrung anhörte. Das ist heute etwas in Schieflage geraten. Unerfahrene Stimmen sind in der Internetkultur manchmal wirkmächtiger als erfahrene. Wobei die ältere Generation durchaus auf die Stimmen der Jüngeren hören sollte, beispielsweise wenn es um den Klimawandel geht.

 

Ab wann werden die biologischen Ände­rungen deutlich?

Ungefähr ab dem 60. Lebensjahr sind sie bei der Mehrzahl der Menschen gut hör­bar. Herbeigeführt werden sie eben durch die Veränderungen in allen drei Stimmbauteilen - in der Atmung, im Kehlkopf und im Vokaltrakt. Erkrankungen im Alter et­wa können Kurzatmigkeit erzeugen; der Blasebalg verliert also an Kraft. Im Kehl­kopf wiederum können die Stimmlippen im Alter nicht mehr so gut schließen, weil ihre Spannung schwerer aufzubauen ist. Dadurch wird die Stimme weniger varia­bel. Und auch im Vokaltrakt lässt die Span­nung der Wände nach. Diese verminderte Gewebespannung erkennt man übrigens auch im äußeren Erscheinungsbild an den zunehmend sichtbar werdenden Längsfal­ten am Hals.

 

Kann man dem entgegenwirken?

Es gibt zwar keinen stimmlichen Jungbrunnen, aber Singen hilft grundsätzlich in je­dem Lebensalter, auch der Sprechstimme. Wir haben dazu Studien gemacht, in denen wir die stimmliche Leistungsfähigkeit von Lehrkräften untersucht haben. Eine Zu­satzfrage darin lautete: Singen Sie im Chor? Diejenigen, die Ja angekreuzt ha­ben, hatten eine signifikant bessere stimm­liche Leistungs- und Belastungsfähigkeit in ihrer Sprechstimme. Das heißt: Singen ist immer gut. Sowohl als Kind, als Erwach­sener und im höheren Alter hat das Singen positive Effekte.

 

Gibt es noch mehr außer Singen?

Erst einmal ist es wichtig, die Veränderun­gen der Stimme als natürlich zu akzeptie­ren. Wie jede Änderung am Körper. Als Ju­gendlicher läuft man 40 Kilometer auf ei­ner Wanderung, als Älterer muss man sich vielleicht eine raussuchen, die nur zehn Ki­lometer lang ist. Aber man sollte auf kei­nen Fall sagen: Wandern kann ich nicht mehr - es sei denn, man ist medizinisch stark eingeschränkt. Heißt übertragen: Man sollte stimmlich weiterhin aktiv blei­ben. Hierbei helfen Übungen zur Atemkon­trolle oder auch stimmtherapeutische, die die Stimmgebung aus einem höheren in ei­nen tieferen Bereich führen. Das ist gut, weil dabei der subglottische Druck eher vermindert wird, was die Stimmsteuerung und Tonhöhenkontrolle vereinfacht

 

Haben Sie ein Beispiel?

Etwa Summ-Übungen auf den klingenden Konsonanten „m" oder „w". (Summt J Doch kann man dies nicht theoretisch, sondern nur praktisch erlernen. Wenn man kein stimmlicher Profi ist, sollte man das unter Anleitung einüben. Das lohnt sich durch­aus. Es gibt Stimmtherapeutinnen und -therapeuten, die helfen, mit den Verände­rungen besser umzugehen. Stimmliche Mobilisation ist in jedem Fall gut Und die erfolgt nicht durch Radiohören, sondern durch SeIbermachen.