Veröffentlichung in der SZ Nr. 121 (Wissen) am 29./30.05.2010
Endlosschleife im Gehirn
Das Phänomen des Ohrwurms gibt der Wissenschaft Rätsel auf
Es passiert, wenn man am wenigsten damit rechnet. Beim Warten auf den Bus, beim Abspülen, beim Joggen. Ganz plötzlich ist er da, ein Fetzen irgendeines Liedes, nistet sich im Kopf ein und bleibt und bleibt und bleibt. Wie aber entstehen die musikalischen Endlosschleifen, die manche Menschen Stunden oder sogar Tage lang quälen? Gibt es gar eine Formel für den perfekten Ohrwurm?
Wenn es sie gibt, ist sie bisher noch nicht gefunden. Und es spricht einiges dagegen, dass sie je entdeckt wird. Das zumindest legen die Forschungen des Musikwissenschaftlers Jan Hemming nahe. Hemming, Professor an der Universität Kassel, ist in einer Studie zu dem Schluss gekommen, dass es ebenso vom betroffenen Menschen abhängt wie von der Musik, damit ein Stück – meist nur eine kurze Phrase daraus – endlos im Kopf widerhallt. Bisherige Untersuchungen, auch solche mit Computer-Analysemethoden, hätten jedenfalls noch keinen Hinweis auf eine Ohrwurm-Formel geliefert.
Als wichtigen Faktor hat Hemming vielmehr die emotionale Einstellung zur Musik ausgemacht. Werde ein Ereignis mit einer starken Gefühlsregung verbunden, gräbt es sich stärker ins Gedächtnis ein. Der Ohrwurm werde unbewusst aufgenommen und ebenso unwillkürlich wieder abgespielt. Das gilt auch für Stücke, die man hasst. Für die Studie hat Hemming zusammen mit einer Gruppe von Studenten ohrwurmträchtige Stücke aus 20 verschiedenen Genres ausgewählt und auf CDs gebrannt. 60 Personen sollten sich die CD oft anhören. Danach wurden die Probanden befragt, ob das Phänomen des Ohrwurms bei ihnen auftrat und in welchen Situationen.
Dass die Endlosschleifen im Kopf eher dann zu dudeln beginnen, wenn Menschen mit einfachen Tätigkeiten wie Spazierengehen beschäftigt sind, zeigte sich auch in einer eben vorgestellten Studie der Universität Montreal. Die Psychologin Andréane McNally-Gagnon hatte dort für ihre Doktorarbeit insgesamt 36 Testpersonen nach ihren schlimmsten Ohrwürmern befragt und dabei auch ermittelt, in welchen Situationen diese sich gewöhnlich bemerkbar machten. Über die Gründe dafür wird gerätselt. "Vielleicht", vermutet Sylvie Hébert, Betreuerin der Arbeit, „tritt das Phänomen auf, um Grübeln zu verhindern oder dass die Stimmung
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Hilft es, ein
anderes
Lied zu summen?
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umschlägt." Die Wissenschaftlerinnen wollen als nächstes mit Hilfe von bildgebenden Verfahren erforschen, was im Gehirn passiert, wenn ein Ohrwurm auftritt. Auch Hemming nimmt an, dass Ohrwürmer als Reaktion auf Leerlaufphasen des Gehirns entstehen. Künftig will er der Frage nachgehen, inwieweit musikalische Parameter –zum Beispiel Melodik, Rhythmik oder Harmonik – das Phänomen des Ohrwurms fördern. Vor allem aber interessiert ihn, warum „ das Gehirn uns so umfassend mit Musik versorgen will".
Und was macht der, dem dieses Angebot des Denkapparats zu viel wird? Ein anderes Lied summen? Den definitiven Ratschlag gibt es nicht. Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler James Kellaris, der Ohrwürmer ihrer Bedeutung für Werbung wegen untersucht, warnt sogar davor – es könnte der neue Ohrwurm werden. Vielen von Hemmings Probanden half es hingegen, sich auf eine andere Tätigkeit zu konzentrieren. Andere Forscher empfehlen, das Ohrwurm-Lied ganz anzuhören.
Was jedenfalls nicht hilft: Pulverisierte Insekten ins Ohr zu streuen, wie es von der Antike bis zur Neuzeit bei ähnlichen Leiden üblich war. Damals verabreichte man zerstoßene Ohrwürmer – in diesem Fall die bis zu 20 Millimeter langen Insekten mit den beeindruckenden Greifzangen am Hinterleib – gegen Ohrenschmerzen.
HELMUT-MARTIN-JUNG